Mitleid-Pullover

Mit - Leid, eigentlich ein schwieriges Wort. Wollen wir Menschen um uns haben, die mit uns leiden? Ich kann diese Frage nur für mich beantworten. Menschen, die mit mir fühlen, sind mir wichtig und treu, aber solche, die mit mir leiden, tun mir nicht gut. Ich möchte nicht, dass Menschen die um mich sind, leiden.

Aber wie sieht es mit dem Selbst-Mit-Leid aus? Ist das etwas Schlechtes? Ich denke nicht. Wenn ich nicht mitleidig mit mir selbst sein darf, sollte ich dies auch nicht den anderen überlassen. Die positiven Gefühle werden in unserer Gesellschaft akzeptiert und sind sogar erwünscht. Warum teilen wir denn die positiven Erlebnisse oft mit weniger Menschen als die negativen? Wenn jemand weint, versuchen die meisten von uns, diesen Menschen sofort zu trösten - wie sieht es aus, wenn jemand vor Freude weint oder Tränen lacht? Ich kann nur für mich sprechen, aber ich habe noch nie jemanden getröstet, der vor Tränen gelacht hat, sondern meist sogar mitgelacht. Warum erlaube ich mir nicht «mitzuweinen»?
Für die Momente, in denen mir zu weinen zu Mute ist, habe ich einen speziellen Pullover. Er ist zwar uralt und hat mich schon an viele Orte begleitet, aber irgendwie ist er mein Lieblingspullover geworden. Viele Male habe ich ihn bereits geflickt und daran rumgenäht. Nicht nur einmal ist er fast im Abfalleimer gelandet, und trotzdem finde ich ihn immer noch regelmässig im Wäschekorb wieder. Es mag vielleicht komisch klingen, aber dieser Pullover erlaubt mir alle Gefühle, die positiven wie die negativen, die schönen wie die traurigen, die nachdenklichen wie die gedankenlosen, die lauten wie die stillen... Nicht selten wechseln diese Gefühle auch, kurz nachdem ich meinen Pullover angezogen habe. Wer weiss - vielleicht sind die negativen, traurigen, nachdenklichen und oft stillen Gefühle auch einfacher zu ertragen, wenn sie ihren Platz in unserem Leben bekommen.
Diesen Beitrag schreibe ich, um euch alle zu ermutigen, auch einen solchen Mitleid-Pullover zuzulegen...